Was man durch einen Zahnarztbesuch über sich selbst lernen kann

Bei einem meiner letzten Zahnarztbesuche riet mir mein Zahnarzt sehr eindringlich, ich solle zusätzlich zum normalen Zähne putzen einmal am Tag Zahnseide benutzen und außerdem noch täglich mit so einem Bürstchen die Zahnzwischenräume reinigen. Ich war total genervt über diese Aussage und auch genervt von meinem Zahnarzt. Wie viel Zeit sollte ich denn noch in meine Zähne investieren? Reichte es denn nicht aus, sie zweimal am Tag ordentlich mit der Zahnbürste zu putzen und regelmäßig zum Zahnarzt zu gehen?

Eine Selbstverständlichkeit war auf einmal anstrengend.

Bis dahin war zweimal am Tag Zähne putzen eine absolute Selbstverständlichkeit für mich. Ab dem Moment wurde es jeden Tag zur Qual. Ich überlegte Abend für Abend aufs Neue, ob ich jetzt wirklich das Komplettprogramm mache, nur Zähne putze, nur Zahnseide etc. Zähne putzen, das mir bisher ohne großes Aufsehen ganz leicht und ohne großes Aufsehen von der Hand ging, war auf einmal anstrengend und stresste mich richtig. Am Ende war ich sauer auf meinen Zahnarzt, dass er mich in diese Situation gebracht hatte.

Warum erzähle ich euch das?

Dafür gibt es sogar zwei Gründe.

Es geht um Verantwortung!

Zuerst fragte ich mich, wer für meine Zähne eigentlich die Verantwortung trägt. Ich habe mich ja in letzter Zeit intensiver mit dem Responsibility Process beschäftigt. Das Thema passte da perfekt hinein und mir fiel irgendwann zum Glück auf, dass ich tatsächlich den Zahnarzt beschuldigte, an meinem Zahnthema „Schuld“ zu sein. 

Dem Zahnarzt war es am Ende aber vermutlich völlig egal, ob ich meine Zähne ordentlich putze. Böse gesagt hätte er sogar mehr davon, wenn ich meine Zähne nicht so gut pflege. Für wen tat ich das also? Wer profitierte als Allererstes davon, wenn ich meine Zähne gründlich pflege? Ich, ist doch klar! Ich pflege meine Zähne für mich, denn ich will gesunde Zähne haben. Diese Verantwortung liegt ganz allein bei mir; ich kann sie keinem Zahnarzt aufdrücken.

Nun gut, zumindest theoretisch hatte ich das verstanden.

Zähne putzen blieb anstrengend.

Dennoch haderte ich jeden Abend mit den erforderlichen Aktivitäten. Interessanterweise nie mit dem Zähne putzen selbst, das war gesetzt und ich stellte es nicht in Frage. Zahnseide, Zahnzwischenreinigung …. jeden Abend überlegte ich, ob ich beides mache oder eins davon weglasse oder ausnahmsweise mal alles. Und es blieb anstrengend. Selbst die Überlegung, dass das völlig selbstverständliche Zähne putzen an sich die deutlich zeitaufwändigere Aktivität war, also rational das Ganze echt kein solcher Akt sein dürfte, half mir nicht.

Es geht auch um Entscheidungen.

Bis ich auf eine interessante Studie stieß. Im Rahmen einer israelischen Studie  wurde untersucht, wie Richter ihre Urteile fällten, also ob jemand nach einer Straftat verurteilt wurde oder auf Bewährung frei kam. Die Forscher stellten dabei eine sehr starke Verbindung zwischen den Entscheidungen und der jeweiligen Tageszeit fest, wann diese Entscheidungen getroffen wurden. Früh am Tag gab es in 65% der Fälle ein positives Urteil, die Anzahl nahm im Laufe des Tages kontinuierlich ab bis auf null, zwischendurch stieg sie direkt nach dem Mittagessen wieder auf den Wert zum Tagesbeginn an, um danach wieder abzufallen.

Was war hier passiert? Es zeigte sich, dass diese vielen Entscheidungen das „Entscheidungsbudget“ der Richter – auch Willensstärke genannt – aufzehrten.

Je später der Abend, desto schlechter unsere Entscheidungen.

Morgens sind wir viel eher in der Lage, kluge und gute Entscheidungen zu treffen. Die Fähigkeit nimmt im Laufe des Tages ab – je mehr Entscheidungen wir treffen, desto schneller. Das kann man sich wie eine Art Energiekonto vorstellen. Morgens ist dieses Energiekonto voll aufgeladen mit frischer Energie. Jedesmal, wenn wir eine Entscheidung treffen, geht etwas von dieser Energie verloren. Wenn das Konto leer ist, funktionieren Entscheidungen nicht mehr gut. Diese Entscheidungs- oder auch Willensstärke ist wie ein Muskel, den man trainieren und damit stärken kann. Der ermüdet, wenn man ihn zu stark beansprucht. Und dann fangen wir an, schlechte Entscheidungen zu treffen.

Dieses Phänomen nennt sich decision fatigue: Je mehr Entscheidungen man trifft, desto schlechter wird die eigene Entscheidungsfähigkeit aufgrund dieser decision fatigue.*

Hattet ihr früh morgens schon mal den Wunsch, eine Tüte Chips zu essen? Passiert eher abends, oder?

Habt ihr mal überlegt, wie viele Entscheidungen ihr im Laufe des Tages trefft? Das fängt vielleicht schon mit dem Klingeln des Weckers an. Stehe ich direkt auf oder drehe ich mich noch einmal um? Schau ich in meinen SocialMedia-Feed oder nicht? Wenn ja, like ich das Bild oder nicht? Was ziehe ich an? Was frühstücke ich?

All diese Tätigkeiten und die damit einhergehenden Entscheidungen reduzieren dein Energiekonto in Abhängigkeit von der Größe der Entscheidung.

Willensstärke rauf? Oder Anzahl an Entscheidungen runter!

Es gibt nun grundsätzlich zwei Möglichkeiten, mit diesem Phänomen umzugehen. Entweder man kann die eigene Entscheidungs-/Willensstärke steigern, indem man diesen Muskel trainiert oder (oder/und) man reduziert die Anzahl der täglichen Entscheidungen, um damit mentale Energie zu sparen bzw. für wichtigere Dinge einzusetzen. 

Als ich von dieser Studie las, überlegte ich mir, welche Entscheidungen ich weglassen könnte. Dabei fiel mir sofort mein tägliches Zahnputzdrama ein. Jeden Abend aufs Neue zu entscheiden, was ich mache und was nicht, fand ich komplett anstrengend und das Ergebnis war nicht immer klug. Nun war mir auch klar warum.

Ab dem Moment habe ich für mich bewusst entschieden, im Einklang mit dem Responsibility Process selbst die Verantwortung für meine Gesundheit zu übernehmen und meinen Zähnen täglich das Komplettprogramm zu gönnen, statt andere dafür verantwortlich zu machen und  jedesmal wieder neu zu entscheiden, was ich mache. Seitdem ist für mich Zähneputzen mit allem Drum und Dran wieder so selbstverständlich und entspannt wie früher.

Darüber freut sich nicht nur mein Zahnarzt!

Kennt ihr auch solche Geschichten? Macht ihr auch manchmal so ein Theater um Kleinigkeiten, die euch nicht leicht von der Hand gehen? Welche Entscheidungen könnt ihr ab heute weglassen?

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* [unbeauftragte Werbung] Von der Studie und diesem Biohack habe ich in dem Buch Game Changers gelesen. Das Buch ist insgesamt ziemlich krass; ich würde es nicht uneingeschränkt zum Lesen empfehlen. Aber einige Biohacks darin fand ich ziemlich cool und eingängig. Wie diesen hier über Entscheidungen und Willensstärke. Die teile ich gerne mit euch!

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