Konstruktion der Wirklichkeit – du erschaffst dir deine Realität!

Eine provokante Überschrift? Man könnte sie ja so interpretieren, dass jeder selbst schuld ist, wenn es einem schlecht geht. Ganz so schwarz-weiß ist es natürlich nicht. Aber mit „interpretieren“ sind wir schon beim richtigen Stichwort.

In einem Training, an dem ich vor ein paar Jahren teilgenommen und das ich auch selber schon als Trainerin gehalten habe, wurde den Teilnehmern eine Geschichte vorgelesen. Darin ging es um einen Mann, der abends nach Hause kam und seine Wohnung in einem verwüsteten Zustand vorfindet. Im Anschluss an die Geschichte wurden den Teilnehmern verschiedene Fragen mit Aussagen zu dieser Geschichte gestellt, die die Teilnehmer entweder mit ja, nein oder weiß ich nicht beantworten sollten. Obwohl die Geschichte sehr kurz war, beantworteten die meisten Teilnehmer den Großteil der Fragen falsch.

Unser Gehirn interpretiert eingehende Informationen.

Die Teilnehmer waren davon ausgegangen, dass sie die Antworten zu den Fragen in der Geschichte gehört hätten. Tatsächlich konnte man aber die meisten Antworten dem Text nicht klar entnehmen.

Beispiel:
Herr S. kommt um 19 Uhr nach Hause.
Kommt er von der Arbeit?
Die meisten Teilnehmer beantworteten diese Frage mit JA, obwohl diese Aussage nicht aus der Geschichte hervorgeht. 

Wie kommt das?

Wir konstruieren uns de facto unsere eigene Wirklichkeit. Unser Gehirn interpretiert permanent die bei ihm eingehenden Informationen. Unsere Sicht auf die Welt ist dabei nicht objektiv, sondern ein unvollständiger und außerdem noch von verschiedenen Faktoren beeinflusster Ausschnitt der gesamten Realität.

Wir steigen die Abstraktionsleiter hoch.

Die Leiter der Schlussfolgerungen oder Abstraktionsleiter nach Chris Argyris und Peter Senge zeigt auf, was hier genau passiert: Einflussfaktoren sind zunächst mal die uns bekannten Daten und Fakten, deren Auswahl allerdings schon durch die eigene subjektive Wahrnehmung und unsere Überzeugungen geprägt sein kann: Wir filtern oft intuitiv und ggf. sogar unbewusst aus, welche Daten wir berücksichtigen und welche nicht. Den ausgewählten Daten geben wir bestimmte Bedeutungen und Bewertungen, die unser Gehirn wiederum zu Annahmen und Schlussfolgerungen bringen. Daraus entstehen letztlich unsere inneren Überzeugungen. Was am Ende dieser Gedankenkette herauskommt, bestimmt wie wir handeln und wie wir in bestimmten Situationen reagieren.*

Das passiert in der Regel blitzschnell. Dass unser Gehirn schnelle Entscheidungen treffen kann, ist grundsätzlich durchaus sinnvoll und oftmals elementar wichtig. Unser Gehirn trifft am Tag über 10.000 Entscheidungen, die erste davon bspw. schon morgens, wenn der Wecker klingt: Aufstehen? Oder Snoozetaste drücken? Bei der Menge an Entscheidungen ist es notwendig, dass viele davon extrem schnell, routiniert und intuitiv getroffen werden. Auch dann, wenn unser Gehirn keine vollständigen Informationen vorliegen hat. Ohne diese Fähigkeit kämen einige von uns vermutlich schon morgens nicht aus dem Bett.

Die Aussage in dem genannten Beispiel, dass Herr S. um 19 Uhr nach Hause kam, hatte ein Großteil der Teilnehmer so interpretiert, dass er von der Arbeit gekommen sein musste, weil es für viele von ihnen eine übliche Zeit war, um von der Arbeit nach Hause zu kommen. Tatsächlich hätte es alles möglich sein können – im Text gab es hierzu keine weiteren konkreten Anhaltspunkte.

Interpretationen beeinflussen unser Denken und Handeln.

Die Geschichte lässt schon erahnen, dass es durchaus auch Situationen geben kann, in denen schnelles Interpretieren und Entscheiden nicht hilfreich ist.

Als in unserem Unternehmen vor etlichen Jahren sogenannte Gehaltsranges eingeführt wurden und alle Gehälter dahingehend geprüft werden sollten, ob sie innerhalb der jeweiligen Gehaltsrange liegen, regte sich ein Kollege von mir darüber fürchterlich auf.

Kollege: Ich liege außerhalb dieser Gehaltsrange. Seit Jahren schon! 
Ich: Kennst du denn die neue Gehaltsrange? Hast du dich erkundigt?
Kollege: Nein. Aber ich bin sicher, dass es so ist. 

Wie sich später zeigte, war die Annahme des Kollegen nicht richtig. Sein Unmut hatte also zwei Effekte: Zum einen war er ganz unberechtigt sauer gewesen auf die HR-Abteilung und seinen Chef. Zum anderen hatte er sich selbst völlig unnötig in eine schlechte Stimmung gebracht. Über einen längeren Zeitraum sogar. Am Ende war er von seiner Annahme so überzeugt, dass er sie für wahr hielt und sie sein Handeln bestimmte. Er ärgerte sich und verschaffte seinem Unmut hörbar Luft.

Warum sollte ich mir meiner eigenen Interpretationen bewusst sein?

Das Gespräch mit dem Kollegen veranschaulicht sehr schön, dass es aus mehreren Gründen sinnvoll ist, sich unserer eigenen Interpretationen bewusst zu sein. Zum einen ist es wichtig in der Kommunikation mit anderen. Gerade in Konfliktsituationen – oder besser noch davor – sollte uns klar sein, dass unsere Sicht der Dinge nicht zwangsläufig die richtige sein muss. Dass es manchmal helfen kann, wenn wir uns auf die Sicht des anderen einlassen und uns klar ist, dass diese Sicht genauso richtig (oder falsch) sein kann wie unsere eigene.

Zum anderen ist es aber auch eine wichtige Information für uns selbst, damit wir unser eigenes Verhalten danach ausrichten können. Wie gesagt: Unsere Sicht der Dinge muss nicht zwangsläufig die richtige sein. Dennoch kommt es nicht selten vor, dass wir auf Basis unserer Sicht der Dinge Annahmen treffen, interpretieren, Schlüsse daraus ziehen – und diese Schlüsse werden am Ende unsere Überzeugungen und bestimmen so unser eigenes Handeln. Sie entscheiden darüber, ob wir uns gut fühlen oder schlecht und wie wir infolgedessen reagieren und handeln.

Warum sollte ich mich damit auseinander setzen?

Es hilft uns also in unserem täglichen Miteinander, sich dieser inneren Mechanismen unseres Gehirns bewusst zu sein und bewusst zu entscheiden, wann sie gut und hilfreich sind und wann eben nicht. In Situationen, in denen diese Mechanismen nicht sinnvoll sind und (vor-)schnelle Entscheidungen nicht gefragt sind, tun wir gut daran, auch mal gezielt einen Schritt zurück zu machen. Wir können uns in solchen Momenten stets die Frage stellen, ob die eigene Überzeugung gerade wirklich wahr ist oder eben doch nur eine vorschnelle Interpretation. In einer Konfliktsituation bspw. – oder besser noch bevor es dazu kommt – ist ein konstruktives Rückfragen, ein Verstehen wollen warum der andere tut, was er tut, meistens die bessere Wahl.

* Weiterführende Informationen zur Abstraktionsleiter

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