Mehr Achtsamkeit gegen Schubladendenken

Wie schnell passiert es euch, dass ihr jemandem begegnet, den ihr noch nicht kennt und über den ihr euch innerhalb weniger Minuten anhand seiner Kleidung, seiner Stimme, seiner Gestik, ja sogar anhand seines Namens ein erstes Bild macht? Wie fix landet jemand bei euch in einer Schublade? Und wie oft nehmt ihr euch bewusst die Zeit, diesen ersten Eindruck später ggf. wieder zu revidieren?

Sicher kennt ihr auch die Situation, dass ihr neu in eine Gruppe kommt und euch  davor ganz viele Gedanken macht, wie dieses erste Zusammentreffen wohl laufen wird. Wie ihr euch verhalten sollt, wie ihr am besten auf die anderen zugeht, um möglichst einen guten ersten Eindruck zu hinterlassen. Eine Situation, die ihr vielleicht schon häufiger erlebt habt.

Mir zumindest geht es gelegentlich so. Kürzlich kam ich im Rahmen einer mehrtägigen Veranstaltung wieder in eine Situation, vor der ich mir diese Gedanken machte. Wie würde wohl der erste Tag und insbesondere das erste Kennenlernen mit den anderen laufen? Wie würden mich die anderen einschätzen? Würde ich mir alle Namen merken können? Würde ich auf die anderen eher offen oder eher zurückhalten wirken und würden mir die „richtigen“ Worte einfallen? Würde ich es schaffen, einen möglichst guten ersten Eindruck zu hinterlassen?

Und dann lief das erste Kennenlernen ganz anders, als ich dachte.

Vor dem Treffen erhielten alle Teilnehmer die Information, dass wir zu Beginn möglichst nicht mit den anderen Teilnehmern reden und uns auch nicht vorstellen sollten.

Das war für mich erstmal ausgesprochen merkwürdig. Ich empfand mich fast als unhöflich, weil ich so wortkarg in der Ecke saß. Nun kam ich auch noch ca. 20 Minuten zu früh, so dass das Schweigen schon beinahe unangenehm war und auch nicht meiner Art entsprach, wie ich normalerweise auf andere Leute zugehe. Später gab es Feedback von allen Teilnehmern zu diesem ungewöhnlichen Vorgehen. Dabei waren auch ein paar dabei, die dieses Schweigen zu Beginn als Erleichterung empfanden, weil es das Ankommen in einer großen Gruppe mit vielen fremden Menschen für sie entspannter machte. Sie mussten sich einfach mal keine Gedanken über ihren ersten Eindruck machen. So saßen also bis zum Beginn der Veranstaltung alle ganz schweigsam auf ihrem Stuhl. Ein Teilnehmer hatte extra zur Begrüßung einen Smiley mit den Worten „Guten Morgen“ auf seinem Smartphone gespeichert, das er den anderen Teilnehmern zeigen konnte. Die Veranstaltung begann für alle recht überraschend mit einer Meditation, was ich persönlich als Einstieg super fand. Total entschleunigend, man konnte einfach erstmal in Ruhe ankommen, ganz ohne Hektik und Stress. Insgesamt überwog bei mir die Vorfreude auf den Tag und die Meditation bestärkte dieses Gefühl.
Direkt im Anschluss – bis hierhin hatte noch keiner der Teilnehmer ein Wort mit den anderen gesprochen – fand eine weitere Übung statt, bei der alle durch den Raum gehen und jedem anderen Teilnehmer – immer noch wortlos – für eine Weile direkt in die Augen schauen sollten. Ich hatte diese Übung schon mal in einer noch verstärkten Form gemacht: Genau einem mir völlig fremden Menschen für einen sehr langen Zeitraum mit soviel Mitgefühl und Wertschätzung wie überhaupt nur möglich in die Augen zu schauen – ein wirklich krasses Gefühl und mit dieser Erfahrung war die etwas abgewandelte Form der Übung für mich auch gar nicht mehr so schwierig. Generell aber ist das schon sehr ungewöhnlich. Dem einen oder anderen Teilnehmer war auch wirklich unbehaglich dabei, jemanden so lange anzuschauen und auch selber so lange betrachtet zu werden. Und das immer noch, ohne ein einziges Wort zu sagen. Mir fiel aber auch auf, mit wie viel Wohlwollen und Wärme ich angeschaut wurde, wie viele freundliche Augenpaare nacheinander auf mich gerichtet waren und es wurde von Mal zu Mal leichter, das auszuhalten.
Danach ging es weiter in Kleingruppen à 5-6 Personen. Hier durften die Gruppen zum ersten Mal miteinander reden. Im ersten Schritt sollte die Gruppe dabei reihum jedem Teilnehmer positive Rückmeldungen geben, was ihr ohne vorherigen Austausch und immer noch ohne Vorstellung oder auch nur einen Namen zu wissen zu der betreffenden Person einfiel – einfach nur aufgrund der eigenen Intuition. Das war wie eine warme Dusche an positivem Feedback! Und wenn man auch vorher automatisch denkt: „Was soll ich denn zu jemandem sagen, den ich nicht kenne und mit dem ich noch nicht einmal ein Wort gewechselt habe“ fällt der Gruppe doch auf einmal ganz schön viel ein – und sogar erstaunlich viel Richtiges, wie der zweite Schritt der Übung zeigte. Hier durften die Teilnehmer der Reihe nach etwas zu ihrem Feedback sagen: Passt es, überrascht es, liegt es vielleicht doch ein wenig daneben? Und ganz natürlich ergab sich aus dieser Übung ein schöner Gesprächsflow, auf einmal erzählten wir uns alles mögliche aus unserem Leben, das sehr wertvoll und ganz weit weg war von einer üblichen Familie-Job-Karriere-Vorstellung. Ich glaube, ich habe von meinen Gesprächspartnern in Summe deutlich mehr behalten, als wenn sie mir die üblichen nüchternen Fakten über sich mitgeteilt hätten.

Warum diese ausgesprochen lange Aufwärmphase? Ich habe sie als sehr persönlich und vertrauensvoll empfunden. Ich habe im Rahmen des ersten Feedbacks erlebt, wie gut ich meiner Intuition vertrauen kann und wo ich mich aufgrund von Äußerlichkeiten noch zu einem falschen Urteil verleiten lasse.  Ich habe mir auf diese Art sicher einige Dinge mehr über die anderen Teilnehmer gemerkt, weil mich das Erzählte viel stärker auf einer emotionalen Ebene angesprochen hat. Mein Kopf und mein Gefühl waren sofort in einem positiven Modus. Wenn das Gehirn positiv eingestimmt ist, wird Zugang zum persönlichen Potenzial geschaffen. Man lernt besser auf der Erlebnisebene, indem man das Erfahrene direkt auf der emotionalen Ebene verankert.

Ich fand das alles hochspannend. Interessant war auch, dass sich genau die Leute, die jeweils zusammen in einer Kleingruppe waren, im Laufe des Tages immer wieder ganz schnell zusammen fanden. Der Weg dazu war durch die wohlwollende Einführungsphase vorbereitet.

Ich bin selber oft viel zu schnell darin, andere Menschen anhand ihres ersten Eindrucks einzuschätzen, den sie bei mir hinterlassen. Von daher denke ich, dass man dem ersten Kennenlernen ruhig ein wenig mehr Zeit geben kann als die berühmten 5 Sekunden. Sicherlich muss es zur jeweiligen Situation passen, da es schon einiges an Zeit erfordert, sich in dieser Form auf neue Menschen einzulassen. Nicht für jedes Kennenlernen sind mehrere Stunden Aufwärmzeit unbedingt angemessen, im Rahmen eines mehrtägigen Projektstarts, Trainings oder einer Veranstaltung, in deren Rahmen man länger miteinander zu tun hat, kann man sicher ein paar Aspekte hieraus übernehmen. Mir hat diese Art des Kennenlernens auf jeden Fall gezeigt, dass es deutlich mehr Möglichkeiten gibt, als das klassische Vorstellen mit „Ich bin …, ich mache …, ich habe …“. Der erste Eindruck ist wichtig, man sollte ihm aber auch den nötigen Raum geben und nicht einfach nur nach Schema F vorgehen.

Von mir selber kann ich allerdings mit gutem Recht behaupten, dass ich anderen zumindest immer die Chance lassen, diesen ersten Eindruck wieder zu revidieren. Wenn dem nicht so wäre, wäre ich heute vermutlich nicht verheiratet. Oder zumindest mit einem anderen Mann. Meinen heutigen hatte ich nämlich beim ersten Kennenlernen doch etwas vorschnell in die falsche Schublade gesteckt ;-).

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